Die Wiesn in München ist das größte Volksfest der Welt – alle Jahre wieder wird dies gebetsmühlenartig in den Medien verbreitet. Seit ich die Feria de Abril in Andalusiens Hauptstadt Sevilla besucht habe, bin ich mir über den Wahrheitsgehalt dieser Aussage nicht mehr sicher. Beschränkt man sich auf das Adjektiv „groß“ und meint damit die Anzahl der Besucher, dann hat das Oktoberfest sicherlich die Nase vorn.
Andalusische Lebensfreude
Flächenmäßig nehmen sich beide Areale nicht viel, wobei in Sevilla die Pack- und Wohnwagen nicht auf dem eigentlichen Festplatz stehen und die Nettofläche somit größer sein dürfte. Ganz sicher ist die Wiesn aber kein reines Volksfest mehr im ursprünglichen Sinne, sondern in nicht unerheblichem Maße eine Großveranstaltung für (ausländische) Touristen. Die Feria de Abril ist hingegen immer noch ein lokales Fest vom Volk für das Volk und mitreißender Ausdruck andalusischer Lebensfreude. Wie so viele Veranstaltungen geht auch die Feria de Abril auf einen Viehmarkt zurück, und zwar in das Jahr 1847. Sie wuchs und wuchs, ab 1890 durch erste Werbeplakate und ab 1910 durch Informationsbroschüren verstärkt. Schon früh kamen die ersten Casetas, die kleinen Festzelte, hinzu, die heute einen Großteil der Veranstaltung ausmachen.
1973 erfolgte der Umzug auf das heutige Gelände südwestlich der Innenstadt, das ähnlich der Theresienwiese in München eine stark auf das Volksfest zugeschnittene Infrastruktur bereitstellt.
Die Feria dauert nur sechs Tage und beginnt zwei Wochen nach Ostern. Wie das nächste Mal im Jahr 2011 kann es also vorkommen, dass das Aprilvolksfest komplett im Mai stattfindet.
Ein Blickfang besonderer Art ist das Eingangstor am Ende der Calle Antonio Bienvenida, das jedes Jahr anders gestaltet wird. 2010 war es über 43 Meter hoch und 51,5 Meter breit, 250 Tonnen schwer und von 20.000 Glühbirnen beleuchtet. Es sollte an den ersten Flug über die Stadt vor 100 Jahren erinnern. Betritt man den Festplatz durch dieses Portal, findet man sich mitten im Real de la Feria wieder, das von über 1000 Casetas gebildet wird. Diese Festzelte werden privat von Familien, Vereinen und Firmen genutzt, Zugang erhält man nur mit einer Einladung. Sechs Großzelte werden von der Stadt betrieben und sind öffentlich zugänglich.
Feiern bis in die frühen Morgenstunden
Die Privatzelte haben eine einheitliche Breite von vier Metern und eine einheitliche Optik mit überwiegend roten oder grünen und weißen Streifen. Der Innenraum ist zweigeteilt in einen hinteren Bereich mit Küche, Bar und Toiletten und einen vorderen, reich dekorierten Bereich, in dem Tische stehen und der von der Straße aus einsehbar ist. Hier wird ab mittags gegessen, gefeiert und getanzt. Der Tag beginnt mit einem festlichen, aber unkoordinierten Umzug andalusischer Reiter und unzählbar vieler Kutschen – es macht den Eindruck, als seien alle Gespanne Südspaniens für sechs Tage in Sevilla.
Da es keine Sperrstunde gibt, wird bis in die Morgenstunden gefeiert, auch in den kleinsten Zelten meistens bei Livemusik. Nicht zuletzt die prächtigen Kostüme, besonders die bunten Flamencokleider, tragen zu der phantastischen Stimmung bei. Dabei wirkt nichts aufgesetzt oder gekünstelt, sondern völlig authentisch.
Anstatt um Rekorde und Geld geht es hier ausschließlich um das andalusische Lebensgefühl.
Eigene Bereiche für die Fahrgeschäfte
Natürlich dürfen bei einer solchen Veranstaltung auch die Fahrgeschäfte nicht fehlen. Wie auf dem Oktoberfest sind der Bereich mit den Festzelten und der Kirmesbereich, der hier Calle del Infierno heißt, räumlich getrennt, man kann also einen Teil besuchen, ohne viel vom anderen mitzubekommen. Die räumliche Trennung setzt sich im Vergnügungsareal fort, denn Kinderfahrgeschäfte, Ausspielungen, Thrillattraktionen und Gastronomie haben jeweils ihre eigenen Bereiche. Was einem deutschen Platzmeister als grober Schnitzer angerechnet würde, hat bei der Feria de Abril System: Gleiche oder sehr ähnliche Fahrgeschäfte stehen hier direkt nebeneinander. Am auffälligsten ist das, wenn drei Saltamontes (Sapito Loco, Mega Kanguro und Maxi Kanguro) zusammen mit einem Rototechno (Techno Dance) nur von einem Top Scan unterbrochen in einer Reihe stehen, und quer dazu ein weiterer Rototechno (namens Maxi Dance) platziert ist. Der vierte Saltamontes (Super Kanguro) steht wiederum in einer Linie mit Maxi Dance und Mega Kanguro – wenn auch nicht direkt daneben.
Generell sind Doubletten an der Tagesordnung. So gibt es zwei Riesenräder, die sich ungewöhnlich schnell drehen und somit eher Thrillride sind denn Aussichtsfahrt. Dazu buhlen zwei Schlittenfahrten, zwei Tagadas, zwei Whips, zwei Top Spins (beide namens Top Gun), zwei Personenventilatoren (Booster und Gigant XXL), zwei Dragon-Coaster, vier Autoscooter und drei Drehmäuse (Raton Vacilon, Raton Vacilon con Gato Comilón und Super Raton con Queso Vacilón) um die Gunst der Besucher. Bei Boomerang und Projekt 1 handelt es sich wenigstens um Anlagen verschiedener Hersteller (KMG und Technical Park).
Selbstverständlich stehen auch die beiden Geisterbahnen (Montaña del Terror und Mansion del Terror) sowie zwei der drei Funhäuser (Torrente 5 und Grand Prix) jeweils unmittelbar nebeneinander – hier sollte man die beiden Pärchen vielleicht zu jeweils einer Großanlage verbinden. Das dritte Funhouse (Mr. Bean 4) steht etwas abgeschieden hinter einem der Bereiche mit Kinderfahrgeschäften.
Besonders interessant sind die nur einzeln vorkommenden Attraktionen. So gastiert mit dem Templo del Mal ein Maze in Sevilla, das allerdings nur abends geöffnet hat. Premiere feierte Inversion XXL von Fabbri, eine Mischung aus Star Shape von Zierer (bekannt als High Energy) mit der Rücken-an-Rücken-Sitzanordnung des KMG Inversion. Leider war die Fahrt trotz der Ausmaße der Anlage – sie ist immerhin 40 Meter hoch – nicht spannender als die Summe ihrer Einzelteile. Bei den für April ungewöhnlich hohen Temperaturen bot Jungla Encantada Rapidos, eine Spinning Rafting Anlage von Reverchon, eine willkommene Abkühlung. Die gab es auch quasi direkt gegenüber bei Selva Encantada, einer transportablen Wasserachterbahn. Es handelt sich dabei um den einzigen produzierten Splash Coaster von L&T Systems, der 2005 auf der EAS in Wien vorgestellt wurde.
Die Fahrt ist erstaunlich sanft und abwechslungsreich, besonders wenn man die kleine Grundfläche berücksichtigt. Es ist schade, dass es nicht mehr solcher Anlagen gibt, aber seit L&T in Preston & Barbieri aufgegangen ist, ist es um das Konzept ziemlich still geworden. Nur durch den Gigant XXL von dem Rafting und einer Maus getrennt war in der Ecke des Festplatzes noch Ala Delta, die Erstauslieferung des Gliding Coasters von Reverchon zu finden. Bei einer so großen Anzahl an Attraktionen sind ein Take-Off (Tiki-Taka) und eine Bungeekugel eigentlich nur eine Randnotiz.
Fahrgäste im Käfig
Zwei spanische Spezialitäten haben sich besonders aus dem Angebot hervorgehoben: La Carcel und Barca Viking.
Letztere ist im Grund eine Riesenschiffschaukel – mit dem kleinen aber feinen Unterschied, dass an den Enden des Bootes Käfige statt Sitzen angeordnet sind. Innerhalb der Käfige stehen die Fahrgäste und können sich frei bewegen, was ein gänzlich ungewohntes und intensives Fahrgefühl vermittelt.
Das Konzept ist bei La Carcel ähnlich. Das Geschäft ist im Prinzip ein Rainbow, nur sind statt Sitzen ebenfalls Käfige montiert. Zwar wird man während der Kreisbewegung nicht völlig schwerelos, der Effekt ist jedoch wirklich erstaunlich.
Bei beiden Fahrgeschäften sollte man sich aber eine ruhige Minute aussuchen, da es bei entsprechendem Andrang in den Käfigen recht eng werden kann und die Möglichkeiten zum Experimentieren ziemlich eingeschränkt sind.
Gruppenbullenreiten für Alle
Auch und gerade für jüngere Besucher sind die Torosgeeignet, eine Art Gruppenbullenreiten. Dabei sitzen die Bullenbändiger hintereinander auf dick gepolsterten Stangen, die hydraulisch ruckartig hoch, runter, seitlich, vor und zurück bewegt werden. Nur die Drehbewegung fehlt zu den hierzulande bekannten mechanischen Bullen, dafür „reiten“ alle gleichzeitig und der Gewinner steht direkt fest – ein großer Spaß sowohl für die Beteiligten als auch für die Zuschauer.
Der Streifen mit den Thrillattraktionen ist zwischen zwei Kinderbereichen einerseits und einem weiteren Kinderbereich sowie den Geisterbahnen und Funhäusern andererseits platziert. Auf die Beschickung der drei Kinderbereiche kann man aufgrund der riesigen Anzahl an Geschäften schon gar nicht näher eingehen. Explizit zu nennen wären nur der Mini Mouse Coaster (was den Coastercount je nach Zählweise auf 8 erhöht), ein nicht gerade kleiner Freifallturm und eine Ponyreitbahn.
40 Großattraktionen für die große Auswahl
Insgesamt sorgt die strikte Aufteilung beim Erstbesuch für reichlich Verwirrung, besonders wenn man auf der Suche nach etwas Essbarem suchend durch den Bereich mit den Fahrgeschäften irrt. Dieser ist dicht und lückenlos bebaut, auf jedem Platz dreht sich oder schwingt etwas. Der schachbrettartige Aufbau ohne Stellplätze für Wohn- und Packwagen und ohne markante Wegeführung mit geschlossener Front ist für den deutschen Kirmesgänger mehr als ungewohnt. Mit deutlich über 40 Großattraktionen (von der Bungeekugel aufwärts und jeden Saltamontes gezählt) ist die Calle del Infierno alleine schon mehr als beeindruckend, sodass der Besuch auch bei moderaten Fahrpreisen von maximal vier Euro schnell recht teuer werden kann.
Nimmt man den Real de la Feria hinzu, ist die Feria de Abril einfach überwältigend, auch wenn die beiden Teile nicht so recht zusammenpassen wollen. Da das Frühjahr für Andalusien eine wirklich geeignete Reisezeit ist, kann ich jedem nur empfehlen, dieses Volksfest einmal zu besuchen. An dem Feria-Wochenende hat außerdem der Freizeitpark Isla Magica üblicherweise geöffnet. Auch sollte man ein paar Tage für die wirklich sehenswerte Stadt Sevilla einplanen, die mich in jeder Beziehung positiv überrascht hat. Und wenn man das touristische Programm mit Ronda, Cordoba und Granada (ich nenne nur die Alhambra) ergänzen möchte, dann kann man auch einen zweiwöchigen Urlaub in der Region verbringen, ohne sich auch nur ansatzweise zu langweilen.
(Text und alle Bilder: Jochen Peschel)
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